Idee

Die organische Interpretation

Vom Körperlichen in der Kunst

Als ich vor kurzem ein Interview mit dem Shaolin-Meister Shi Heng Yi hörte, wurde mir wieder einmal mehr bewusst, wie eng verknüpft, wie verwand die Kulturen der Welt in ihren Erkenntnissen und Weisheiten eigentlich sind. Es ging im Gespräch darum, was in der Welt Bestand hat, um Loslassen können, Geschlossenheit, Öffnung, fließen können, strömen können, um Bewegung, um Kampf und Kunst, um Kraft, Körperlichkeit und die Erkenntnis in der Kampfkunst, dass man zum Geistigen über das Körperliche gelangen kann.

Um all diese Begriffe geht es auch in der europäischen Kunst, nur sind sie durch ein übermäßiges Verrationalisieren bei uns verblasst. Wie Meister Shi Heng Yi feststellte, ist in der Gesellschaft die Körperlichkeit, die Bewegung und damit der Kampf verlorengegangen. Für mich ist dies eine Bestätigung meiner Wahrnehmung. Seit inzwischen Jahren kämpfe ich für mehr Körper in der Musik, mehr Kraft im Klang. „Musik ist kein aneinanderreihen von Tönen, sondern ein Ringen von Kräften“ (W. Furtwängler) – aber wo sind sie denn, diese Kräfte, ich höre sie nicht mehr. Hören Sie sie? Hören Sie das Körperliche in der Musik? Ich nicht, es ist verschwunden. Diesbezüglich möchte ich Ihnen eine Begebenheit erzählen, die sich in den 1970er Jahren vor einer Probe der Berliner Philharmoniker ereignete:

Thomas Brandis, der damalige Konzertmeister, erzählte, dass die alten Kollegen Töne spielen konnten, dass das Dach der Philharmonie förmlich weggeflogen wäre, aber die neuen Kollegen diese Kräfte nicht mehr hätten.

Dieser Kräfte – Energiemangel wurde schon viel früher bemerkt. Er ist das Resultat einer Verrationalisierung unseres gesamten Lebens. Wohin das führen kann hat Meister Shi Heng Yi sehr deutlich beschrieben.

Für uns Künstler in der Musik bedeutet das:

Mehr Körper, mehr Kraft, mehr Kampf, mehr Organik in der Musik! Über die Körperlichkeit zum Geiste Bachs, Mozarts, Beethovens, Verdis etc. kommen.

Schon Goethe war vom Körperlichen in der Kunst fasziniert. An Beethoven bewunderte man seine Kraftentwicklung während seines Klavierspielens. Kraft bedeutet nicht immer Gewalttat. Sie bedeutet in der Kunst Gestaltung.

Kraft und Kultur

„Wer etwas Treffliches leisten will,
Hätt gern was Großes geboren,
Der sammle still und unerschlafft
Im kleinsten Punkte die höchste Kraft.“

(F. Schiller)

„Aus der tönend bewegten Form die tönend beseelte Gestalt machen.“

Was muss musikalische Interpretation heute leisten?

Wenn ich möglichst einfach aussagen sollte, was wir in unserer (Musik-) Kultur eingebüßt haben, so würde ich sagen: „Die Fähigkeit, eine organische Räumlichkeit zu erzeugen.“ Dies ist aber Bestandteil unserer gesamten Interpretationkultur vor etwa 1900 gewesen. Wir können  heutzutage für eine neue Kunst unterschiedlichste Räume erzeugen, in der wir diese Kunst präsentieren. Für die Interpretation der Musik von vor 1900 sind diese Räume ungeeignet, da ihnen etwas Entscheidendes fehlt: die Fähigkeit des organischen Strömens in der Form.

Wir leben im digitalen Zeitalter und sehen unsere einzige Chance darin zu bestehen, im Wetteifern mit der Maschine, indem wir versuchen Wissen anzuhäufen, zu strukturieren und zu verknüpfen. Wir sind „verrationalisiert“. Aber was bedeutet das für die Kunst, wenn sie nur noch im und über den Kopf stattfindet? Wie spricht sie, von wem und zu wem? Das Beethovensche Wort „Von Herzen möge es wieder zu Herzen gehen“ hieße demnach in unsere Zeit übersetzt „Vom Kopfe möge es wieder zu Kopfe gehen“. Wie der Mensch schafft, so interpretiert er auch. Wir brauchen heute mehr denn je als „Kinder dieser Zeit der Rationalität“ einen Weg aus unserem Gefängnis des Kopfes hin zur Organik in der Räumlichkeit. Anders gibt es keine Möglichkeit, die großen Werke unserer Musik, die heute noch eine aktuelle Botschaft vermitteln könnten, zum wirklichen Leben zu erwecken.

Die Kunst ist dazu da, dass der Mensch sich als Ganzes in der Schöpfung erfassen kann. Dies ist notwendiger Bestandteil des Menschseins. Wir befinden uns in einer Zeit des Überflusses, in der es ungleich schwer geworden ist, die wirklich lebensnotwendigen Bestandteile zu erkennen. Von allen Seiten werden wir attackiert mit Dingen und Konzepten, die wir angeblich dringend zur Optimierung unseres Daseins, zur Verwirklichung unserer Selbst brauchen. Aber erkennen wir uns darin tatsächlich?

Auch die Musik war immer Ausdruck des „ganzen“ Menschen. GANZ bedeutet, dass die Fähigkeit des Hineinfühlens in die eigene innere organisch fließende und strömende Existenz verbunden ist mit dem Denken. So entstehen Gleichgewichtszustände (die innere Mitte), die nur fühlbar, nicht denkbar sind, und uns zu einem Teil der Natur machen.

Wir haben einen organischen Körper – aber wie können wir organisch gestalten?

Organisch heißt diesbezüglich natürlich, einer natürlichen Denk- und Fühlweise entspringend. Unorganisch ist eine unnatürliche Denk- und Fühlweise, die aus fehlendem Kontakt zur Innerlichkeit besteht, deren Gedanken sich verselbstständigen, sich bis hin zur Raserei auftürmen und Menschen in tiefe Umnachtung stürzen können. Wir sind geprägt durch einen „Neuerungswahn“, das gehetzte Streben nach dem „Höher-Schneller-Weiter“, ständige „Updates, ohne die sonst gar nichts mehr läuft“, der Druck, auf dem neusten Stand sein zu müssen, um „mit zu kommen“ ist symptomatisch für unsere moderne Gesellschaft. Seelisches jedoch braucht kein Update, es ist zeitlos. Neues wird irgendwann alt, natürlich-organisch Beseeltes bleibt immer natürlich. Unsere Lebensweise hat Unnatürliches zur Maxime erhoben.

Was heißt das für die Interpretation in der Musik?

Organisch heißt in diesem Kontext tief entspannt, natürlich strömend, gefestigt in sich, äußerlich ruhig, jedoch das innere Chaos, den inneren Strom zeigend. Musikalisch bedeutet das, dass man den Klang ständig kontrolliert und nicht eine Sekunde loslässt, das gilt für beide, Instrumentalisten und Dirigenten. Dies erfordert einen direkten Kontakt vom Instrumentalisten zum Instrument und vom Dirigenten zum Musiker. So kann Musik aus dem Moment heraus gestaltet werden, ist singend in jedem Tempo, selbst in den schnellen Allegros. Diese Musizierweise ist kraftvoll.

Unorganisch dagen heißt verkrampft, äußerlich nervös wegen innerer Ohnmacht, darum entstehen stockende, sprunghafte Veränderungen der Tempi und Dynamiken, die Übergänge fließen nicht. Klänge werden sich selbst überlassen, spektakulär weggeworfen, nicht kontrolliert. Die Interpretation tendiert dazu oft hysterisch und schreiend anstatt singend zu sein. Es richtet sich alles nach dem Kopf, ein Körper kann nicht entstehen. Es besteht ein Missverständnis zwischen „äußerlicher Freiheit durch Bewegung und Hektik“ und „wirklicher innerlicher Freiheit durch strömen und fließen im Körper“. Der Dirigent hat keinen wirklichen Kontakt und lässt das Orchester oft alleine spielen mit mehr oder weniger verschiedenen Einsätzen. Er schlägt am Klang „vorbei“, meist ohne Vorbereitung des Niederschlags. Beim Instrumentalisten ist es ähnlich, er hat keinen wirklichen Kontakt zum Instrument und damit auch nicht zum Klang. So kann keine Form entstehen. Die Musik wirkt durchgespielt, abgesprochen, wiederholend, ohne improvisatorisches Element, gesanglos, sowohl im Adagio als auch im Allegro. Der innerliche Faden ist nicht da. Anstatt innerlich zu strömen wird äußerlich gelärmt. Diese Musizierweise ist kraftlos.

Mut zum eigenen Gefühl!

Unsere Zeit ist überfüllt mit Un-Organik durch unnatürliches, fragmentiert-sprunghaftes Denken und Fühlen. Die Mode wird allzu wichtig genommen. Nicht der Klassische Stil ist das Wichtigste an Mozarts und Beethovens Musik, es ist die innere Botschaft. Der Stil war zeitgegebenes Baumaterial, die Botschaft ist seelisch-organisch, das heißt persönlich. Und das ist das Zentrale beim Musizieren für mich. Wenn sich der Geist von der Materie löst, bleibt nur noch Verpackung. Mir ist das zu langweilig. Es fehlt der Inhalt! Darum sehe ich es als meine Aufgabe, den Weg einer organischen Interpretation zu gehen.

Jochen Heibertshausen

 
 

Beseelung: Ist übernatürlicher Art und hat nichts mit menschlichen „Affekten“ zu tun, sie ist der Sprache nicht zugänglich.

Gestalt: Die in sich geschlossene, alle Teile zur lebendigen Einheit zusammenfügende, im wahrsten Sinne „seiende“ Gestalt als Ziel allen „Werdens“, dieses „Werden“ selber aber in der ununterbrochenen Umwandlung der „Gestalt“ auf diese bezogen und deren Sinn in immer neuen Steigerungen verwirklichend.

Klassik ist kein Stil, sondern eine bestimmte Schau der Welt.

Was ist organisch?

Ein Doppeltes ist in diesem Worte einbegriffen. Etwas In-Sich-lebendes, Abgetrenntes, ein lebendiges, individuelles Wesen, eine Welt, ein Kosmos, eine Atmosphäre – – und zugleich etwas, das in den Strom desorganischen Geschehens, in den Strom der Generationen eingebettet ist, das damit den Zugang zum Unendlichen inmitten seiner Endlichkeit trägt und so über sich hinausweist. Das eine ist so wichtig wie das andere, ja, es gehört beides aufs innigste zusammen. Der unorganischen Fühl- und Denkweise geht das Bewußtsein von beidem verloren. Alles Organische ist immer und überall tief religiös gebunden. Es ist zugleich frei,
unabhängig, stolz, denn es ist zugleich das, was Goethe höchstes Glück der Erdenkinder nennt: die Persönlichkeit. (Wilhelm Furtwängler, Aufzeichnungen 1945)

Kraft und Kultur

„Das Mißverstehen der Kraft, als wäre sie Gewalttat, der Einsamkeit der Leistung, als bedeute sie subjektive Willkür, verbaut noch heute vielen den Zugang zu Beethovens tiefstem Wesen.“ (Wilhelm Furtwängler)

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