Organische Interpretation
„Aus der tönend bewegten Form die tönend beseelte Gestalt machen.“
Was muss musikalische Interpretation heute leisten?
Wenn ich möglichst einfach aussagen sollte, was wir in unserer (Musik-)Kultur eingebüßt haben, so würde ich sagen: „Die Fähigkeit, eine organische Räumlichkeit zu erzeugen.“ Dies ist aber Bestandteil unserer gesamten Interpretationkultur vor etwa 1900 gewesen. Wir können heutzutage für eine neue Kunst unterschiedlichste Räume erzeugen, in der wir diese Kunst präsentieren. Für die Interpretation der Musik von vor 1900 sind diese Räume ungeeignet, da ihnen etwas Entscheidendes fehlt: die Fähigkeit des organischen Strömens in der Form.
Wir leben im digitalen Zeitalter und sehen unsere einzige Chance darin zu bestehen, im Wetteifern mit der Maschine, indem wir versuchen Wissen anzuhäufen, zu strukturieren und zu verknüpfen. Wir sind „verrationalisiert“. Aber was bedeutet das für die Kunst, wenn sie nur noch im und über den Kopf stattfindet? Wie spricht sie, von wem und zu wem? Das Beethovensche Wort „Von Herzen möge es wieder zu Herzen gehen“ hieße demnach in unsere Zeit übersetzt „Vom Kopfe möge es wieder zu Kopfe gehen“. Wie der Mensch schafft, so interpretiert er auch. Wir brauchen heute mehr denn je als „Kinder dieser Zeit der Rationalität“ einen Weg aus unserem Gefängnis des Kopfes hin zur Organik in der Räumlichkeit. Anders gibt es keine Möglichkeit, die großen Werke unserer Musik, die heute noch eine aktuelle Botschaft vermitteln könnten, zum wirklichen Leben zu erwecken.
Die Kunst ist dazu da, dass der Mensch sich als Ganzes in der Schöpfung erfassen kann. Dies ist notwendiger Bestandteil des Menschseins. Wir befinden uns in einer Zeit des Überflusses, in der es ungleich schwer geworden ist, die wirklich lebensnotwendigen Bestandteile zu erkennen. Von allen Seiten werden wir attackiert mit Dingen und Konzepten, die wir angeblich dringend zur Optimierung unseres Daseins, zur Verwirklichung unserer Selbst brauchen. Aber erkennen wir uns darin tatsächlich?
Auch die Musik war immer Ausdruck des „ganzen“ Menschen. GANZ bedeutet, dass die Fähigkeit des Hineinfühlens in die eigene innere organisch fließende und strömende Existenz verbunden ist mit dem Denken. So entstehen Gleichgewichtszustände (die innere Mitte), die nur fühlbar, nicht denkbar sind, und uns zu einem Teil der Natur machen.
Wir haben einen organischen Körper – aber wie können wir organisch gestalten?
Organisch heißt diesbezüglich natürlich, einer natürlichen Denk- und Fühlweise entspringend. Unorganisch ist eine unnatürliche Denk- und Fühlweise, die aus fehlendem Kontakt zur Innerlichkeit besteht, deren Gedanken sich verselbstständigen, sich bis hin zur Raserei auftürmen und Menschen in tiefe Umnachtung stürzen können. Wir sind geprägt durch einen „Neuerungswahn“, das gehetzte Streben nach dem „Höher-Schneller-Weiter“, ständige „Updates, ohne die sonst gar nichts mehr läuft“, der Druck, auf dem neusten Stand sein zu müssen, um „mit zu kommen“ ist symptomatisch für unsere moderne Gesellschaft. Seelisches jedoch braucht kein Update, es ist zeitlos. Neues wird irgendwann alt, natürlich-organisch Beseeltes bleibt immer natürlich. Unsere Lebensweise hat Unnatürliches zur Maxime erhoben, was von vielen beklagt wird. Ich wage zu behaupten, dass es in der Musik kaum Künstler gibt, die wirklich einfach, natürlich und organisch strömend schaffen, geschweige denn interpretieren.
Was heißt das für die Interpretation in der Musik?
Organisch heißt in diesem Kontext tief entspannt, natürlich strömend, gefestigt in sich, äußerlich ruhig, jedoch das innere Chaos, den inneren Strom zeigend. Musikalisch bedeutet das, dass man den Klang ständig kontrolliert und nicht eine Sekunde loslässt, das gilt für beide, Instrumentalisten und Dirigenten. Dies erfordert einen direkten Kontakt vom Instrumentalisten zum Instrument und vom Dirigenten zum Musiker. So kann Musik aus dem Moment heraus gestaltet werden, ist singend in jedem Tempo, selbst in den schnellen Allegros. Diese Musizierweise ist kraftvoll.
Unorganisch dagen heißt verkrampft, äußerlich nervös wegen innerer Ohnmacht, darum entstehen stockende, sprunghafte Veränderungen der Tempi und Dynamiken, die Übergänge fließen nicht. Klänge werden sich selbst überlassen, spektakulär weggeworfen, nicht kontrolliert. Die Interpretation tendiert dazu oft hysterisch und schreiend anstatt singend zu sein. Es richtet sich alles nach dem Kopf, ein Körper kann nicht entstehen. Es besteht ein Missverständnis zwischen „äußerlicher Freiheit durch Bewegung und Hektik“ und „wirklicher innerlicher Freiheit durch strömen und fließen im Körper“. Der Dirigent hat keinen wirklichen Kontakt und lässt das Orchester oft alleine spielen mit mehr oder weniger verschiedenen Einsätzen. Er schlägt am Klang „vorbei“, meist ohne Vorbereitung des Niederschlags. Beim Instrumentalisten ist es ähnlich, er hat keinen wirklichen Kontakt zum Instrument und damit auch nicht zum Klang. So kann keine Form entstehen. Die Musik wirkt durchgespielt, abgesprochen, wiederholend, ohne improvisatorisches Element, gesanglos, sowohl im Adagio als auch im Allegro. Der innerliche Faden ist nicht da. Anstatt innerlich zu strömen wird äußerlich gelärmt. Diese Musizierweise ist kraftlos.
Mut zum eigenen Gefühl!
Unsere Zeit ist überfüllt mit Un-Organik durch unnatürliches, fragmentiert-sprunghaftes Denken und Fühlen. Die Mode wird allzu wichtig genommen. Nicht der Klassische Stil ist das Wichtigste an Mozarts und Beethovens Musik, es ist die innere Botschaft. Der Stil war zeitgegebenes Baumaterial, die Botschaft ist seelisch-organisch, das heißt persönlich. Und das ist das Zentrale beim Musizieren für mich. Wenn sich der Geist von der Materie löst, bleibt nur noch Verpackung. Mir ist das zu langweilig. Es fehlt der Inhalt! Darum sehe ich es als meine Aufgabe, den Weg einer organischen Interpretation zu gehen.
Jochen Heibertshausen
Beseelung: Ist übernatürlicher Art und hat nichts mit menschlichen „Affekten“ zu tun, sie ist der Sprache nicht zugänglich.
Gestalt: Die in sich geschlossene, alle Teile zur lebendigen Einheit zusammenfügende, im wahrsten Sinne „seiende“ Gestalt als Ziel allen „Werdens“, dieses „Werden“ selber aber in der ununterbrochenen Umwandlung der „Gestalt“ auf diese bezogen und deren Sinn in immer neuen Steigerungen verwirklichend.
Klassik ist kein Stil, sondern eine bestimmte Schau der Welt.
Was ist organisch?
Ein Doppeltes ist in diesem Worte einbegriffen. Etwas In-Sich-lebendes, Abgetrenntes, ein lebendiges, individuelles Wesen, eine Welt, ein Kosmos, eine Atmosphäre – – und zugleich etwas, das in den Strom desorganischen Geschehens, in den Strom der Generationen eingebettet ist, das damit den Zugang zum Unendlichen inmitten seiner Endlichkeit trägt und so über sich hinausweist. Das eine ist so wichtig wie das andere, ja, es gehört beides aufs innigste zusammen. Der unorganischen Fühl- und Denkweise geht das Bewußtsein von beidem verloren. Alles Organische ist immer und überall tief religiös gebunden. Es ist zugleich frei,
unabhängig, stolz, denn es ist zugleich das, was Goethe höchstes Glück der Erdenkinder nennt: die Persönlichkeit. (Wilhelm Furtwängler, Aufzeichnungen 1945)
Kraft und Kultur
„Das Mißverstehen der Kraft, als wäre sie Gewalttat, der Einsamkeit der Leistung, als bedeute sie subjektive Willkür, verbaut noch heute vielen den Zugang zu Beethovens tiefstem Wesen.“
DER „GEISTLICHE TOD“
von Wilhelm Furtwängler 1941
Der kürzlich verstorbene Dichter Paul Ernst erwähnt in einem seiner Aufsätze das, was die mittelalterlich-katholische Scholastik den „geistlichen Tod“ nannte, jenes merkwürdige Phänomen, daß innerhalb eines völlig gesunden, lebensfähigen Körpers die Seele stirbt. Ernst stellt dies vor allem am Schicksal des ägyptischen Volkes dar, wie ja Schicksale ganzer Völker innerhalb der Geschichte und Schicksale einzelner Menschen innerhalb ihres begrenzten Menschenlebens unendlich viel Parallelen aufweisen. Die Ägypter waren bekanntlich auch diejenigen, die Spengler zu seiner berühmt gewordenen Theorie des Anwachsens und Absterbens der Völker von höherer Kultur, aus archaischen Zuständen zu höchster kultureller Blüte und schließlich zu leerer Zivilisation, inspirierte. Spengler nannte den Endzustand eines solchen Volkes „Fellachentum“. Als der berühmte Dorf-Schulze aus dem 3. Jahrtausend v. Chr. in Ägypten durch Ausgrabungen aus dem Nilschlamm zu Tage kam, sagten die Ägypter sofort: „Das ist ein Dorf-Schulze“, d. h., der körperliche Typus dieses Mannes war vor 5000 Jahren schon genau derselbe, wie er es noch heute wäre. Noch heute sehen die Dorf-Schulzen der Fellachen ebenso aus wie dieser Mann, und doch können die Nachfahren derselben Ägypter, die einst eine Kunst geschaffen haben, die in ihrer Großartigkeit und stilistischen Höhe niemals wieder erreicht worden ist, die eine hochstehende Religion und eigentümliche höchstproduktive Kultur ihr eigen nannten, heute nicht mehr die anspruchsloseste Handwerkerarbeit durchführen. Beim Bau des Suezkanals mußte man ausländische Arbeiter heranziehen, weil die Ägypter intellektuell nichts konnten. Dennoch aber essen sie, schlafen sie, vermehren sie sich, sind körperlich gesund und werden alt wie ihre Vorfahren vor 5000 Jahren – nur haben sie ihre Seele verloren.
An der ägyptischen Geschichte ist dieses merkwürdige Phänomen deshalb besonders klar und deutlich zu sehen und zu studieren, weil die Ägypter ein Volk waren, das sich im Laufe der Geschichte ungewöhnlich wenig mit anderen Völkern vermischt hat. Die gelegentlichen Überfremdungen, die auch ihm nicht erspart blieben, wurden mit der Zeit immer wieder überwunden. Und so kann man bei ihm, wie selten bei einem Volk, innerhalb der Geschichtsüberlieferung von einem zusammenhängenden Volksschicksal sprechen.
Dieses selbe Schicksal nun aber begegnet uns bei einzelnen Menschen. Rings um uns haben wir Bekannte, Freunde, mit denen wir leben, und die uns doch in Wirklichkeit aus hohlen Augen mit gestorbenen Seelen anblicken, ohne es zu wissen. Wissen oder richtiger bemerken können das natürlich nur die, die selber eine Seele haben, und nur, soweit sie eine haben; denn nur soweit sind sie imstande, die Abwesenheit einer solchen zu entbehren. Sie sind es auch, die bei hundert Anlässen des Lebens, bei den Erscheinungen der Geschichte, des öffentlichen oder privaten Wirkens der Menschen, sich das Gefühl dafür bewahrt haben, wie weit die Seele, d. h. der im höchsten Sinne ganze, runde, volle Mensch, mitspricht oder nicht. Ganz besonders aber ist der Künstler, befähigt und darauf angewiesen, die seelische Jugend und Kraft eines Menschen zu bemerken. Lebt doch die Kunst im eigentlichen Sinne von der Seelensubstanz, ist sie doch nichts anderes als deren getreuer Ausdruck. So sehen wir denn auch gerade bei Künstlern am deutlichsten, wie sich die Beziehungen zwischen Seele und Körper im Laufe eines langen Menschenlebens verändern. Es gibt Künstler, die bis zu ihrem 20. Lebensjahr eine Seele hatten und dann bis zu ihrem 80. Jahr ohne sie fortwerkelten und sich beständig selbst nachahmten. Es gibt andere, deren Seele sich bis zu ihrem letzten Atemzuge beständig erneuerte. Nicht bei allen spricht sich dieses Verhältnis so deutlich aus, wie z. B. bei Rossini, der bekanntlich nach seinem 40. Jahr mit Komponieren aufhörte und sich darauf beschränkte, zu kochen und Kuchen zu essen durch weitere dreißig Jahre hindurch. Man kann einem solchen Manne zumindest die Ehrlichkeit nicht absprechen – sehr im Gegensatz zu den meisten Erscheinungen gerade unserer Zeit.
Sehr deutlich ist das Verhältnis zwischen Seele und Körper oder, besser gesagt, ist das Alter und die Lebenskraft der Seele eines Künstlers bei den sogenannten Nachschaffenden, bei Pianisten, Geigern, insbesondere Kapellmeistern, zu bemerken. Der Dirigent hat zur Materie seiner Kunst nur ein mittelbares Verhältnis. Er bildet nicht aus der Kraft seines Körpers heraus wie der Sänger die Stimme. Es ist daher bei ihm nicht möglich, daß – wie bei jenen – die schöne Stimme die Menschen noch lange betört, während die dahinterstehende Seele längst gestorben ist – so wie wir bei den Ägyptern gesehen haben, daß körperlich-biologische Gesundheit und Kraft mit Gesundheit und Kraft der Seele keineswegs identisch sind. Auch der Ton der Instrumentalisten, des Geigers, ja, des sprödesten aller Instrumente, des Klaviers, ist irgendwie durch biologische Gesundheit des Körpers mitbedingt. Er kann als isolierte Errungenschaft eines Körpers weiterbestehen, wenn auch das, was diese Errungenschaft herbeigeführt hat, die Seele, längst verschwunden ist. Beim Dirigenten aber zeigt sich ein seelisches Manko am unmittelbarsten. Dirigieren ist Ausströmen seelischer Energien auf einen Instrumentalkörper, und diese seelischen Energien bilden schließlich auch die materielle Qualität des Tons, das rhythmische, harmonische und klangliche Leben.
Worin vermögen wir nun ein Absterben oder Nachlassen seelischer Kräfte bei einem Künstler wahrzunehmen? Die Kraft einer jugendlichen Seele äußert sich recht eigentlich in der Hingabe an eine große Aufgabe. Die Art dieser Aufgaben, die an den Menschen herantreten, ist unendlich verschieden; mit ihnen wollen wir uns jetzt nicht befassen, wenn es auch nicht ohne Bedeutung ist für das Wirken des Seelischen, an welchen Aufgaben es sich manifestiert. Zunächst aber ist das Wie hier besonders aufschlußreich. Die Art, wie an eine Aufgabe herangegangen wird, der Grad der wirklichen Hingabe ohne Vorbehalt, kennzeichnet die Jugendlichkeit der Seele. Je älter der Mensch seelisch wird, je mehr die allesbelebende Kraft dieses Zentrums seiner Existenz sich verflüchtet, desto stärker wird der platte Egoismus des Körpers. Wenn Spengler sagt, daß in diesem Sinne alte Völker nicht mehr kämpfen wollen – er erwähnt dabei die mohammedanischen Einwohner von Bagdad, die sich von den Mongolen alle abschlachten ließen -, so hat auch die moderne Zeit dafür Beispiele. Völker wollen nicht mehr kämpfen, weil der einzelne nicht mehr die Kraft der Hingabe, die ihn über den allzu persönlichen Egoismus, des Um-jeden-Preis- leben-Wollens; hinwegträgt, aufbringt. Beim reproduktiven Künstler zeigt sich dieser Egoismus – um bei diesem Wort zu bleiben – in der mehr und mehr nachlassenden Hingabewilligkeit an die seelischen Ursprünge des Werkes, das er unter den Händen hat. Jedes große Kunstwerk, sei es, wie es sei, wird von einem bestimmten Ausdrucksbe-dürfnis geschaffen; hinter ihm steht ein Lebensgefühl, und wer dieses Lebensgefühl nicht wieder und erneut zu fühlen imstande ist, wer es nicht neu erwecken kann, wird auch das Werk nicht erwecken. Man vergegenwärtige sich nur einmal die Situation eines darstellenden Künstlers, etwa eines Dirigenten – hinter sich ein Publikum, das von ihm Wirkungen erwartet (also eine Art Zwangs-situation), und vor sich ein Werk, das nicht mit genügend Deutlichkeit zu sagen scheint, wie und woher er diese Wirkung nehmen soll, d. h., deutlicher gesagt, dessen inneres Lebensgefühl er nicht von neuem wieder zu erwecken vermag. Er wird Auswege suchen – ja, er muß Auswege suchen. Da ist zunächst der Ausweg, der bei der Schauspielkunst der nächstliegende ist, eben durch das Leben des Theaters. Man „macht Theater“, d. h., man täuscht die Empfindung vor, die man nicht hat. Wenn nun ein Publikum vorhanden ist, das selber noch echte seelische Qualität besitzt, so fühlt das unweigerlich sofort, wo beim Künstler das „Theater“ beginnt, wo er anfängt vorzutäuschen, statt wirklich zu leben, wirklich zu reproduzieren. Besteht dieses Publikum aber, wie es vielfach beim Publikum unserer Großstädte, insbesondere beim Publikum der wenigen Weltstädte, der Fall ist, selbst aus einer Majorität innerlich schon toter, ausgehöhlter, seelenloser Menschen, so wird das Gefühl für das Falsche, innerlich Verlogene an dem Vorgehen des Künstlers nicht mehr vorhanden sein. Der Künstler wird weiter wirken können; er wird vielleicht berühmt gerade durch die Eigenschaften, die ihn einem solchen Publikum empfehlen. Wir haben innerhalb der modernen Musikkultur, die nicht nur Deutschland, sondern ganz Europa und Amerika, soweit es sich mit Musik befaßt, einschließt, eine Reihe solcher Fälle; und sie vermehren sich mit weiterer Verweltstädterung der Musikverhältnisse. Dennoch hat es von weiterer Sicht aus den Anschein, als ob alle diese Erscheinungen mit der Zeit in sich selbst abstürben. Und das zwar deshalb, weil die Menschen nur so lange Empfindungen vortäuschen können, solange sie diese Empfindungen noch von der Zeit her, wo sie echt waren, irgendwie in Erinnerung haben. Auf die Dauer sich gegenseitig mit vorgetäuschten Empfindungen zu ergötzen, interessiert die Menschen nicht. Seelenlose Menschen verzichten schließlich gern auf den Anschein der Seele; insbesondere, wenn sie innere Aufrichtigkeit besitzen. Innere Aufrichtigkeit, oder wenigstens das Bedürfnis danach, kann man der modernen Welt wohl am wenigsten absprechen. In der Kunst zeigt sich das in einer Reihe eigentümlicher Theorien, die gerade in den letzten Dezennien mehr und mehr an Boden gewonnen haben.
Mit dem Schwinden der seelischen Beteiligung des Menschen an der Re-Produktion eines Werkes werden – rein körperlich gesehen – Geisteskräfte frei, die nach anderer Seite hin sich Bahn schaffen. Sehr charakteristisch ist bei Künstlern dafür das, was man „technische Kontrolle“ nennen möchte. Das geschulte Ohr für die kleinste Unebenheit technischer Art, Unsauberkeit, Unklarheit rhythmischer Natur usw. ist eine Forderung des aus voller und gesunder Seele Reproduzierenden. Diese „Kontrolle“ nimmt aber um so mehr überhand, je mehr die seelische Beteiligung nachläßt. Von einer selbstverständlichen Voraussetzung, gleichsam einer natürlichen Begleiterscheinung des ganzen Reproduktionsprozesses, rückt sie auf zu einer beherrschenden Sorge, zur schließlich entscheidenden Leistung. Die gewaltige Steigerung technischer Qualität innerhalb des modernen Instrumenta-listentums, Dirigententums usw. ist nicht zu verkennen. Daß sie erkauft ist mit einem ebenso großen Verlust seelischen Wissens, seelischen Fühlenkönnens, mit einem ebenso großen Verlust von Phantasie und wirklicher Lebenskraft, wissen die wenigsten.
So müssen wir Künstler von heute uns darüber klar sein, uns damit abfinden, daß die menschliche Seele, d. h., diejenige Kraft, der alle großen, wirklich lebendigen Kunstwerke entspringen und von jeher entsprungen sind, schwer erkämpft ist und immer von neuem umkämpft werden wird. Bedeutsam für heutiges Denken ist, daß jene biologische Einstellung zur Welt, die den Sinn der Welt in ihrer Gesundheit sieht – eine Gesundheit, die wesentlich an körperlichen Funktionen abgenommen ist -, der wirklichen Welt keineswegs gerecht wird. Die Kunst und die Künstler scheinen – richtig verstanden – ein ungleich zutreffenderes und getreueres Bild der wirklichen Gesundheit und des Kraftverhältnisses darzustellen, als eine rein pragmatische, von den eigentlichen Erkenntnissen der Seele absehende Biologie, wie sie heute Mode ist.